So sind wir by Lustiger Gila

So sind wir by Lustiger Gila

Autor:Lustiger, Gila [Lustiger, Gila]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Berlin Verlag
veröffentlicht: 2015-08-09T16:00:00+00:00


6

»Und dann?«, fragte Dominique, »er verlor die Orientierung und brach ohnmächtig zusammen, und dann, was geschah dann?«

Und ich dachte im Stillen, ah, wie clever, wie perfekt dieses »Und dann?« Und wie es schon daherkam! Ganz scheinheilig, mit einem Fragezeichen im Tonfall. Aber wenn man genau hinschaute, dann sah man, dass sich das Fragezeichen reckte und streckte, zu einem Ausrufezeichen wurde und stramm stand. Und wenn man die Ohren spitzte, hörte man es die Hacken zusammenschlagen wie ein preußischer Rittmeister. Ich will Fakten, jetzt, gleich, sofort. Nur keine Mätzchen, metaphysische Extratour, Bewegtheit, Scherereien. Habt acht, Rechtswendung, Stillstand, Fakten!

Was? Du willst nicht? Was, du hast es immer noch nicht kapiert? Glaubst du wirklich, dass du für die Abteilung Gründe und Zusammenhänge des Seins zuständig bist? Nein? Na also. Und für die Abteilung Unsterblichkeit der Seele? Ebenfalls nicht? Ah! Siehst du! Was gibt es da noch zu zögern? Auslassen. Und was da unverhofft aufflackert als Verheißung, ich weiß nicht, welcher albernen Ewigkeit – verzichten, hörst du? Auf den ganzen Klimbim kann ruhig verzichtet werden. Um es mit den Worten deines kommunistischen Großvaters auszudrücken: »Alles nur a grojßer Beschiss.«

Du kannst ihn doch nicht einfach so im Gras liegen lassen. Auf offenem Feld. In einem Wald. Den Kopf an einen Baumstamm gelehnt. Böse zugerichtet. Um es gelinde auszudrücken. Also los, gib uns schleunigst Meldung. Er liegt da, und dann?

Zu Befehl, Herr Major. »Und dann …«

Einen kurzen Augenblick sah ich auf meine Schuhspitzen, so als gebe es da etwas zu sehen. Dann blickte ich zu Dominique auf: »Man könnte es so zusammenfassen: der Zufall.«

»Du meinst, er blieb aus Zufall am Leben?«

»Ja, so ungefähr. Aber wenn man es sich recht überlegt, wer ist denn nicht aus Zufall am Leben?«

Dominique winkte ungeduldig ab. »Also was nun, hat er sich wieder aufgerafft?«

»Nein, er wurde gefunden. Von einer amerikanischen Panzerpatrouille. Hätte ebenfalls eine deutsche sein können, aber es waren GIs, die von der Normandie aus den ganzen Feldzug durch Frankreich und Deutschland mitgemacht hatten. Mein Vater kam in den Armen eines amerikanischen Soldaten zu Bewusstsein. Ich glaube, er war Unteroffizier frankokanadischer Abstammung. Er brachte meinen Vater in ein Feldlazarett. Vielmehr banden sie meinen Vater mit Seilen an den Panzer fest und beförderten ihn so. Die Einheit war in einem kleinen Städtchen im Harzgebirge stationiert. Mein Vater blieb dort sechs Wochen.«

Und auch dort, auch im Lazarett versah der Zufall treu seinen Dienst. Scheute keine Mühe, verwendete sein gesamtes Können und schenkte meinem Vater einen Arzt, der wusste, wie man einen Lagerhäftling ernähren muss, der jahrelang kein Fleisch, kein Fett, kein Obst und keine Milch zu sich genommen hatte. Der Organismus meines Vaters war auf ganz normale Nahrung gar nicht eingestellt, und hätte man ihm die Lebensmittel bewilligt, die der Grund seiner Flucht und der sich hieraus ergebenden Rettung gewesen waren, ja, hätte man ihm erlaubt, sich endlich, nach jahrelangen Entbehrungen, Hunger und Leiden, satt zu essen, so wäre mein Vater gestorben. Aber sein Retter widerstand, und diese Standfestigkeit … und wieder sehe ich ihn, den Zufall der Geprellten. Derjenigen, die für die Fehler büßen, die andere für sie begangen haben.



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